Dieser fragwürdige Titel bezeichnet vorläufig das hybride Gebilde aus sprachlichen und nun auch künstlerischen Beiträgen der Erstsemester-Studierenden. Das an-alphabet bricht somit an denjenigen Stellen auf, an denen die künstlerischen Beiträge andocken, und artikuliert nicht-diskursives Material, welches sich einer sprachlichen Übersetzung entzieht. Die Formation verwandelt sich in ein chimärenhaftes Konglomerat aus verschiedenen Kodes und Genres, das der Metapher des Rhizoms von Deleuze und Guattari ähnelt: „In einem Rhizom dagegen verweist nicht jeder Strang notwendig auf einen linguistischen Strang: semiotische Kettenglieder aller Art sind dort nach den verschiedensten Codierungsarten mit politischen, ökonomischen und biologischen …mehr… Kettengliedern verknüpft; es werden also nicht nur ganz unterschiedliche Zeichensystem ins Spiel gebracht, sondern auch verschiedene Arten von Sachverhalten. […] Ein Rhizom verknüpft unaufhörlich semiotischen Kettenteile, Machtorganisationen, Ereignisse in Kunst, Wissenschaft und gesellschaftlichen Kämpfen. Ein semiotisches Kettenglied gleicht einem Tuberkel, einer Agglomeration von mimischen und gestischen Sprech –, Wahrnehmungs – und Denkakten: es gibt keine Sprache an sich, keine Universalität der Sprache, sondern ein Wettstreit von Dialekten, Mundarten, Jargons und Fachsprachen.“ (Deleuze/Guattari, 1977 S. 12)
Mit dem Eintritt der künstlerischen Beiträge in den an-alphabetischen Textkörper ergeben sich gänzlich neue Rezeptionsweisen. Bilder, Videos, Podcasts, Installationen, Performances, Zeichnungen, Narrative und Kombinationen bieten im virtuellen Raum der online Präsentation einen Zugang zu den Kräften, denen die Studierenden im pandemischen Jahr 2020 ausgesetzt waren. Die künstlerischen Transformationen streuen somit disruptive wie auch immersive Erlebnispraxen in die Struktur hinein und lenken die rezipierende Person in diverse Räume und Thematiken. Sie wird eingeladen, neue, mehrdimensionale, sinnliche Wahrnehmungen zu erleben und wird als „embodied person“ (körperliche/verkörperte Person) angesprochen und berührt. Zugleich sind die Beiträge selbst „embodiments“ (Verkörperungen) von 103 individuellen Erfahrungen, Gedanken und Verfasstheiten. Damit operiert das komplexe online – Genrehybrid auf verschiedenen Ausdruckebenen und stellt eine dreifache Fusion aus Zahlen-, Buchstaben- und Bildkodierungen dar. Was ist entstanden?
Ein Alphazom und Rhizomabet, in kollektives Gewebe, eine Fragment- Formation, oder eine Bricolage, die weniger über ihre Abfolge als vielmehr über ihre Bruchstellen Querbezüge in un-alphabetischen Zusammenhängen emotional und mental, intuitiv, viral und virtuell weder lesen noch begreifen, aber erleben lässt?
Ein Un-alphabet, generiert aus dem an-alphabet? Das Rhizomabet und Alphazom zeigt eine polyphone und polytelische (vielzielige) Sicht aus 103 Perspektiven auf unbekannte und unbenannte und doch von uns Allen erfahrene Terrains aus dem Jahr 2020. Und da die Pandemie anhält, werden wir uns weiterhin in unvorhersehbaren Umständen aufhalten und den Umgang mit diesen vagen, fragilen und offenen Situationen gestalten lernen.
„Aber das Bild ist keine Aussage und erfordert, gemäß der Unterscheidung von Deleuze, eine Semiotik und keine Semantik, das heißt eine Theorie der nicht-diskursiven Zeichen, die sich nicht damit begnügt, die Rhetoriken der Signifikanz zu vervielfältigen oder linguistische Operationen nachzuahmen. Die Semiotik definiert sich als System der Bilder und unabhängig von der Sprache im Allgemeinen. Daher rührt die Schwierigkeit einer Analyse der nicht-diskursiven Künste, denn es gilt, dem Diskurs beizubringen, was diesem nicht entstammt, und den Gedanken aus einer signalethischen, nicht-linguistischen Materie, die dennoch nicht amorph, sondern semiotisch, ästhetisch und pragmatisch wohl geformt ist, zu extrahieren.“ (Sauvagnargues, 2019, S.12)
Deleuze, Gilles und Guattari, Felix, Rhizom, 1977, Merve Verlag
Anne Sauvagnargues, Ethologie der Kunst, 2017, August Verlag